Faulheit

Faulheit ist im deutschen Wertsystem derart negativ verankert, dass heftige Diskussionen und Widerspruch grundsätzlich vorprogrammiert sind. Jeder spricht von Work Life Balance aber niemand darf dem Nichtstun nacheifern. Faul sein? Nein, sowas macht man nicht. Man pausiert, um Kraft zu tanken, ruht, um seine Gedanken zu ordnen. Aber reines Nichtstun, einfach so, ohne tieferen Hintergrund? Ohne wenn und aber – sowas gibt es nicht. Wieso eigentlich? Und wieso soll da gerade Faulheit das Thema dieses Good News Letters sein?

Die moderne Gesellschaft hat uns Zeitersparnis durch zunehmende Effizienz versprochen. Gerade neue Technologien versprechen augenscheinlich Arbeitseinsparung. Weniger tun, mehr Zeit. Und woher kommt dann der Ausspruch „Zeit ist Geld“? In diesem Zusammenhang spricht man doch ganz eindeutig von „Zeitverschwendung“, wenn sie nicht effizient, dem guten Geld zuliebe genutzt wird! Müßiggang ist Tod. Reine (Zeit-)Verschwendung und überhaupt: Ohne Fleiß kein Preis. Wer rastet der rostet. Fleiß ist eine Tugend und den Tüchtigen gehört die Welt. So haben wir das gelernt. Aber der Vergleich hinkt. Daran ist etwas faul:

Er behindert unseren Fortschritt.

Das Faultier weiss nicht, dass es ohne Fleiß keinen Preis gibt.
Und bleibt deshalb hängen.

Als gesundheitsbewusster Mensch solltest du tunlichst dafür sorgen, dass du deine wohlverdiente Portion Langeweile beziehst. Heute noch nicht gefaulenzt?

Dann aber los jetzt!
Faul zu sein ist extrem wichtig für die Regeneration von Körper und Geist. Das Faulsein sorgt für Gelassenheit, fördert unsere Kreativität und steigert die Konzentrationsfähigkeit. Ja, auch Faulheit ist eine Art der Achtsamkeit! Und um von dieser „Muße“ geküsst zu werden, muss man dem Drang nach Perfektion widerstehen, das Effizienkarussel anhalten, sich selbst beschränken und vor allem eines: Die eigene Zeit selbstbestimmt nutzen lernen.
Was könnte uns da besser in die Karten spielen als Kurzarbeit und Quarantäne – ein Rezept von der Regierung ausgestellt:

„Einmal nichts tun bitte!“



Was assoziiert man mit dem Nichtstun und warum sind nahezu alle Synonyme (bis auf „bequem“), die man zu Faulheit findet, ebenso negativ behaftet? Um nur einige wenige zu nennen:

erfolglos, gefährlich, unzureichend, übel, elend nachteilig, unerwünscht schädlich, unangenehm, defekt, unwirksam, ungenügend, nutzlos, mangelhaft, katastrophal, verhasst unbefriedigend, minderwertig, unzulänglich, unhaltbar, abschätzig, verächtlich

Früher war Glück, wenn man die Beine hochlegen und nichts tun konnte. Heute Joggen die Menschen von ihrer Arbeit hin und zurück – schräg.
Vieles davon haben wir sicherlich aus der Kinderstube übernommen. Man meinte es gut mit uns. Aus uns sollte mal etwas werden! Ein tatkräftiges, wissbegieriges und zielstrebiges Individuum. Erfolgreich, nach den Sternen greifend. Eine seltsame Sucht gaukelt uns hier die Arbeitsklasse vor, die Sucht nach Arbeit und je länger wir die Faulheit nicht von einem anderen Standpunkt versuchen zu betrachten, um so schlimmer wird sich dieses Szenario zeichnen. Südkorea lebt es uns vor: mit rund 800 Stunden im Jahr arbeiten sie um ein Vielfaches mehr als wir und ein Ende scheint hier nicht in Sicht. Tatsächlich sind sie dadurch aber nicht leistungsstärker, ganz im Gegenteil: 800 Stunden Arbeit im Jahr machen müde und erstaunlich unproduktiv. Schauen wir uns ein Positivbeispiel an und stellen uns die Frage: Was habe ich davon?

What is in it for you? (WIFY)

Der mit Abstand größte Teil der von Menschen gelösten Probleme wurde mit dem eindeutigen Bestreben nach Faulheit konzipiert:

Der Erfinder des Rads hatte sehr wahrscheinlich die Nase voll von wochenlangen Fußmärschen. Musste er dabei noch Wasser in vermutlich nicht sonderlich dichten Tierledersäcken von A nach B transportieren, wird ihm sicherlich, nach genügend Mußgang, der Gedanke einer Wasserpumpe in den Sinn gekommen sein und auch die Erfindung des Aufzugs war sicherlich keine christliche Tugend hin zu mehr Zeugungskraft und Nähe zu Gott, sondern ein schlichtes, elementares Bedürfnis nach Bequemlichkeit.
Und auch neurologisch lässt sich dieser Vorgang sehr eindrucksvoll aufzeigen:
 
Schließe die Augen. Gib dir einen Moment, um tief einzuatmen. Denke an: Nichts.
Wie fühlt es sich an? Das Nichts? Gedankenleer? Still? Oder vielleicht doch der eine oder andere Zwischenruf aus dem off? Der Gedanke an die Einkaufsliste? Die Frage „was mach ich hier eigentlich? Hoffentlich schaut mein Partner gerade nicht hin.“
Unser Gehirn ruht nicht. Noch nicht einmal nachts, wenn wir im Bett liegen und augenscheinlich nichts tun: schlafen. Unser Gehirn kennt keine Pausenfunktion. Es assoziiert – oder ist tot. Dazwischen gibt es keinen Wert.

Für die Wissenschaft bedeutet das: Keine Nulllinie und jede Menge Grund zu forschen! „Default Mode“ nennt man den Zustand unseres Hirns, wenn wir aktuell keinem Gedanken nachhängen. Vielleicht kennst du den Begriff „Hirnfasching“?

Mein Partner überrascht mich immer wieder mit diesem Phänomen, wenn er während einer Zugfahrt beispielsweise aus dem Fenster sieht:

Unendliche Landschaften fliegen vor seinem geistigen Auge vorbei: Farben, Silhouetten, Formen. Ich frage ihn: „Woran denkst du gerade?“ Und er sagt: „Nichts.“

Es hat (wirklich) lange gedauert, bis ich mich mit dieser Antwort zufrieden geben konnte. Eine Stimme in mir hat immer wieder gegen diese offensichtliche Lüge protestiert. „Er will sein Innerstes nicht mit dir teilen!“ „Er hat ein Geheimnis vor dir!“ Und irgendwann habe ich mich mit dem Thema Neurobiologie näher befasst und stellte fest: „Er ist einfach nur in seiner Black Box unterwegs.“ In seinem ganz persönlichen „Default Mode“. Dem Ruhezustand.

Die Wissenschaft nennt es im übrigen nicht Nichts tun, sondern befürwortet den Begriff „Die Gedanken schweifen lassen“. Das wiederum denke ich, kann jeder aus seiner eigenen Biografie ableiten. 

Was passiert aber, wenn wir unsere Gedanken schweifen lassen? Und das im besten Falle nicht nur während einer Zugfahrt, sondern für einen längeren, dauerhaften Zeitraum?

Ein Netzwerk aus vier neuronalen Gebieten innerhalb des Gehirns wird beim „Tagträumen“ auffällig aktiv. Aktiver als würde man es während der Lösung einer Rechenaufgabe beobachten. Diese Vernetzung führt zu gesteigerter Kreativität (der Erfinder des Aufzugs war wohl besonders  exzessiv mit Tagträumen beschäftigt), gesteigerter Selbsteinschätzung (Metaebene) und einem ebenso gesteigerten Mitgefühl für andere Menschen – das „sich in andere Hineinfühlen“ prägt sich besonders stark aus.

Wie kannst du dein ganz persönliches Default Mode Network (DMN) fördern?

In dem du einer monotonen, für den Körper augenscheinlich langweiligen Tätigkeit nachgehst.
Bei mir ist es das Joggen. Nicht, dass ich in dieser Zeit körperlich untätig wäre, aber mein Körper kennt diese Bewegungsabläufe, wenn ich nicht gerade dem Vorsatz folge in Intervallen zu sprinten und das Tempo halte, verfalle ich in eine Art Monotonie, in der ich irgendwann auch vergesse, an welcher Kreuzung ich wo abgebogen bin.
True Story: Die Isar war plötzlich links, wo sie doch vorher rechts von mir lag. Default Mode der Extraklasse.

Habe ich mich an einen Gedanken erinnert, den ich in diesem „Black Box Zeitraum“ hatte? Ganz bestimmt nicht. Andere kennen das vielleicht vom Bügeln, Autofahren, und vielen anderen Tätigkeiten, die uns geistig/körperlich einfach nicht mehr sonderlich fordern.

Und hier kommt Schritt Nummer zwei: Verurteile dich nicht dafür!

Leichter gesagt, als getan. Was habe ich innerlich geschimpft, als die Isar plötzlich die Seite gewechselt hatte. Der Handy Akku war leer, die Wohnung sonst wo und der nächste Ort 4km weit entfernt. Meiner Mitbewohnerin hatte ich etwas von einem „kurzen Lauf ums Haus“ erzählt.

Und so ergeht es vielen anderen Menschen leider auch mit ihrer Tagträumerei. Nicht selten ärgern sich Tagträumer darüber, dass sie schon wieder nichts Vernünftiges mit sich angefangen haben. Dabei unterschätzen wir, wie wichtig diese scheinbar ergebnislosen mentalen Auszeiten tatsächlich sind: Sie geben uns, per se unserem Gehirn, die notwendige Ressource (Zeit) alte Gedanken zu ordnen, neue Ideen zu schmieden, Erinnerungen zu festigen und Ziele ins Auge zu fassen und sie weiter zu verfolgen. Das ist sowohl für die alltägliche Lebensplanung hilfreich als auch im sozialen Miteinander, wenn wir versuchen uns in andere hineinzuversetzen oder bestimmte Verhaltensweisen anderer Menschen nachzuvollziehen. Wissenschaftler sprechen hier von Gedankenreisen, bei denen wir uns zukünftige Ereignisse ausmalen oder uns an einen anderen Ort „imaginieren“. Wem das besonders leicht fällt, dessen „Fantasie-Zentrum“ im Hirn ist im übrigen besonders stark ausgeprägt. Und das wiederum lässt Ideen und kreative Lösungsansätze nur so sprudeln.

Unser Hirn, ein Superrechner der Extraklasse!

Träumst du noch, oder grübelst du schon?

Die Grenze zwischen Tagträumerei und Grübeln ist nicht leicht auszumachen. Beides passiert meistens einfach so, unbemerkt und lässt sich auch durch einen bewussten Entschluss („Ich möchte nicht mehr so viel grübeln!“) nicht so einfach umgehen.

Doch während Tagträumer von einem Gedankenspiel zum nächsten springen, bleiben Grübler oftmals in einem negativen Gedankenkarussell stecken und versuchen es geradezu exzessiv „auszugrübeln“.
Das ständige Kreisen um augenscheinliche Fehler oder bestenfalls noch der eigenen Unvollkommenheit, ist ein häufiger Warnschuss hin zu einer depressiven Zerstreuung. Auch das kann heute neurobiologisch durch bildgebende Verfahren beobachtet werden.

So und hier kommt nun die wichtigste Frage am Ende dieses sehr sehr sehr sehr langen (gedankenzerstreuenden) Good News Letter:

Hast du dein persönliches WIFY (What´s in it for you) schon gefunden?

Ich wünsche dir die Gelassenheit und die Selbstliebe dein inneres Faultier zu erkennen und anzunehmen.

Irgendwann ändern sich nicht die Dinge, sondern die Bedeutung, die wir ihnen geben.

Lass dich nicht davon abhalten auch deinem Faultier ein wohliges Zuhause einzurichten, denn es kommt mit vielen, unscheinbaren und doch so wertvollen Geschenken, die deinen Alltag leichter machen werden, sobald du es mit offenen Armen annimmst.

Ich wünsche dir die Gelassenheit diese besondere Situation zu nutzen und deinem Faultier, vielleicht zum ersten mal, bewusst den roten Teppich auszurollen, ganz nach dem Motto:

„Hereinspaziert du neurobiologische Wunderwaffe! Ich bin gespannt, was du mir zu bieten hast!“

Quellen: Brand eins, 17. Jahrgang Heft 08 August 2015; www.dasgehirn.info; https://www.spektrum.de/news/das-gehirn-beim-tagtraeumen

Leave A Comment

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.