Befragt man Google zum Thema Angst, stößt man auf folgenden Wortlaut:
Angst
Substantiv, feminin [die]
- beklemmendes, banges Gefühl, bedroht zu sein“eine wachsende, würgende, bodenlose, panische Angst befällt, beschleicht, quält jemanden“
Mir fallen zu dieser Beschreibung eine ganze Reihe von Gegebenheiten, Erfahrungen und Kindheitserinnerungen ein:
Der erste Vortrag eines Gedichtes vor der gesamten Klasse, das erste Mal alleine Zuhause (jedes Geräusch eine Erinnerung an den letzten Horrorfilm, den man mir verboten hatte anzusehen), meine Führerscheinprüfung (die erste von zweien), das erste Bewerbungsgespräch, meine Abschlussarbeit.
Jeder Mensch, der auf dieser Erde weilt, hat Zugriff auf ein Sammelsurium von „Angstzuständen“. Und jeder zweite rät in einer solchen Situation dazu die Angst zu überwinden: „Beiss die Pobacken zusammen!“, „Zieh´s durch!“ „Reiß´dich zusammen!“, „Augen zu und durch!“ könnten die gutgemeinten Ratschläge von Freunden, Bekannten, Ärzten, Medien und etwaigen Selbsthilfeexperten gelautet haben. Ein Aufruf, dem Gefühl der Angst den Kampf anzusagen. Fight or Flight! (Kämpfe oder Fliehe)
Aber was, wenn wir unser Leben lang der falschen Prämisse, dem falschen Ratgeber gefolgt sind?
Wie verrückt wäre es einen vollkommen anderen Ansatz zu verfolgen, der darauf abzielt das mißliebige Gefühl der Angst als etwas weniger negatives, vielleicht sogar schon fast, beinahe, mit ganz viel Fantasie, als etwas wohlwollendes, positives zu betrachten? Und ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Es im folgenden auch als solches zu nutzen – als eine ungeahnte Ressource, die Geheimwaffe, von der man sein Leben lang nichts wusste?
Initiieren wir einen Perspektivwechsel:
Das Gefühl des Bauchgrummelns, des Stechens im Herzen, der feuchten Hände – ein Anzeichen für wundersame Heilung? Ganz gewiss nicht. Allerdings ein Hinweis darauf, dass etwas für uns als wichtig empfundes gefährdet ist und somit geschützt werden muss. Eine Art Frühwarnsystem sozusagen.
Alicia Clark, Autorin des Buches „Hack your Anxiety“ bringt es auf den Punkt: „…wenn man offen ist sie [die Angst] anzunehmen und in einen neuen Kontext zu stellen“, könne sie eine sehr hilfreiche Emotion sein. Umso erschreckender (im wahrsten Sinne des Wortes) ist die Tatsache, dass beinahe alle meiner Klienten und Teilnehmer auf die Frage nach der Wertung von Angst eine negative Definition nennen.
Woher kommt diese eingefahrene Sichtweise auf das wohl älteste, evolutionärste Gefühl der Menschheit?
Und dabei treffen wir den Nagel schon auf den Kopf: Evolutionär.
Denken wir uns in die Zeit der Säbelzahntiger, der Sammler und Jäger zurück und begeben uns auf die Suche nach dem Nutzen von Angst. Weiter oben nannte ich bereits den Begriff „Frühwarnsystem“. Und in der Tat gibt es aus evolutionärer Sicht nur drei verschiedene Wirkungsmechanismen der Ursache „Angst“: Fight (Kämpfe mit dem Säbelzahntiger), Flight (Nimm´die Beine in die Hand, damit der Säbelzahntiger dich nicht fressen kann) oder Freeze (Tu so, als wärst du gar nicht da). Die erste Variante hatte eine Adrenalinspritze zur Folge, die den Körper Leistungsstark und emotional weniger anfällig für Schmerzen (zumindest während des Kampfes) machte. Eine Art Energiebooster, die man sich heutzutage in Form von Fallschirmspringen oder ähnlichem holt. Welche Energiereserven wohl freigesetzt wurden bei einem solchen Mensch-gegen-Tiger-Kampf? Ohne mich je mit einem Tiger gerangelt zu haben oder aus einem fliegenden Flugzeug gesprungen zu sein – die Angst, die in solchen Situationen aufkommt, setzt unglaubliche Mengen an Energie frei (Berichte von Freunden, die diesen irre, skurrilen Sprung tatsächlich gewagt haben, bestätigen diese Aussage). Aus evolutionärer Sicht ist dieses Gefühl demnach überlebenswichtig. Trotzdem wird sie mit etwas negativem verknüpft, weil wir die Angst als etwas widerwilliges, unkontrollierbares und alles vereinnahmendes empfinden. Vermeidung ist die vermeintliche Lösung, was beinahe jedes „Problem“ noch größer werden lässt und so kommt es im schlimmsten Fall der Fall zur Angst vor der Angst – der Beginn einer sogenannten Angststörung (z.B. Phobien, Panikstörungen, Posttraumatische Belastungsstörungen. etc.) *
Was können wir also tun, um uns die Angst zum Freund zu machen?
Einen Ansatz habe ich bereits genannt: Das Frühwarnsystem. Angst kann an zwei motivierenden Punkten ansetzen:
1) Sie kann uns darauf aufmerksam machen, dass in einem bestimmten Bereich Probleme oder Bedrohungen lauern, die uns von unserem Ziel abbringen oder auf Bereiche in unserem Leben zusteuern, die uns wichtig sind. Das könnte zum Beispiel die Angst vor dem Nichtbestehen einer Prüfung sein, wie es beispielsweise bei mir der Fall gewesen ist. Mein Leben lang sammelte ich (augenscheinliche) Beweise dafür, dass ich und Mathematik nicht zusammenpassten. Ich war der festen Überzeugung, dass ich unter einer Mathe-Krankheit leiden musste, die mich ganz selbstverständlich davon abhalten würde, meinen Schein in Statistik und Wirtschaftsmathematik abzulegen. Alleine der Gedanke an die Prüfung im dritten Semester versetzte mir derart große Angst, dass ich beschloss die Prüfung zu schieben. Und zu schieben. Und zu schieben. Ihr könnt euch denken, was jetzt kommt: Ganz genau, der oben genannte Perspektivwechsel.
Irgendwann (Gott sei Dank nicht kurz vor Ende meines Studiums, sondern ein gutes Stück davor) wurde mir bewusst, dass ich diese Prüfung ablegen musste, um am Ende des Tages ein Zeugnis in der Hand halten zu können. Ich nutzte meine Angst (tatsächlich weniger bewusst, als ich es heute tue), um mich in all den Punkten vorzubereiten, in denen ich das Gefühl hatte noch nicht gut genug zu sein. Ich nahm mein Praxissemster zum Anlass in der vorlesungsfreien Zeit zu lernen. Und ich büffelte, als gäbe es kein Morgen mehr. Rocky auf der Zielgeraden: Failure is not an option. Diese Prüfung werde ich bestehen (und den Glaubenssatz „Ich kann das nicht“ über Bord werfen) und ich werde sie gut bestehen. Was dann tatsächlich auch der Fall gewesen ist.
Was war passiert?
Meine Angst hat mir gezeigt, dass ich in einem Bereich, der mir wichtig war, nicht so schnelle (durch Aufschieben erzielt man genau genommen gar keine Erfolge) Fortschritte machte, als es nötig gewesen wäre.
Im weiteren Schritt analysierte ich die Situation: Die Zeit, die mir meine vorlesungsfreie Zeit gab, konnte ich nutzen, um mich gezielt vorzubereiten.
2) Ich analysierte die Situation ausführlicher. Alternative B zu A, dem Aufschieben.
Aber Angst kann noch viele weitere positive Ressourcen aktivieren. Adrenalin – der Treibstoff, der Körper und Geist auf Hochtouren fahren lässt. Eine Kette von physiologischen und chemischen Reaktionen wird hier in Gang geschoben. Auge um Auge mit dem Säbelzahntiger. Was bringt uns das in der Neuzeit? Diese Form der Erregung macht uns leistungsstärker und hält uns emotional stabil. Ich fühle mich beim Schreiben dieser Worte an mein erstes (und viele weitere) Bewerbungsgespräche erinnert. Ich hatte eine solche Angst, beinahe wäre ich aus dem Aufzug wieder rausgesprungen. Einfach so. Wird schon niemand merken. Aber ich wollte diesen Job. Ich wollte ihn so sehr, ich wusste, ich musste da durch. Und das Gespräch, mein Körper durch und durch mit Adrenalin vollgepumpt, lief derart gut, ich konnte im Nachhinein gar nicht fassen, dass all diese eloquenten Antworten auch tatsächlich von mir kamen. Eine Folge des Angst-Treibstoff-Tanks? Ganz genau!
„Die Dosis macht das Gift.“
Schießt die Angst über die Zielgerade hinaus, kehrt sie sich in etwas weniger hilfreiches um: Das Yerkes-Dodson-Gesetz zeigt auf, dass die „pushende“, „nervenkitzelende“ Kurve kippen kann und die Leistungsfähigkeit im nächsten Schritt in den Keller rauscht. Dabei denke ich ganz intuitiv an den letzten Elf-Meter, der, trotz optimaler Bedingungen, Talent und vieler weiterer Erfolgsfaktoren buchstäblick über´s Ziel hinaus schoss. Alles Gelernte rutscht in so einem Moment ins Land des Vergessens. Prüfungsfragen werden plötzlich nicht mehr verstanden, man vergisst die Bedeutung hinter der Begrifflichkeit „Rechts vor Links“ (und trägt sich in die Liste der Zweit-Prüflinge ein). In so einem Moment scheint die Angst alles andere zu sein, als „mein Freund und Helfer“ – sie schreit einem geradezu ins Gesicht.
„Das Problem ist nicht das Problem. Das Problem ist deine Einstellung zum Problem. Verstehst du?“
Captain Jack Sparrow weiss es besser und bringt uns zum entscheidenen Punkt zwei der Kategorie „Wann Angst zu deinem Freund und Helfer wird“. Die Einstellung muss stimmen. Die Evolution hat uns gelehrt Angst als etwas Negatives zu assoziieren und dieses Gefühl so weit es geht zu vermeiden. Umso wichtiger ist es hier sich selbst einen Perspektwechsel zu ermöglichen. Starte doch beim nächsten Anflug von Angst den Versuch dieses Gefühl zu hinterfragen, es anzunehmen als gutgemeinten Rat und genau hinzuhören, was es dir zu sagen hat. „Woher kommst du?“ „Worauf möchtest du mich hinweisen?“ „Was kann ich hier und jetzt von dir lernen?“ Gleichzeitig ist es natütlich mindestens genauso herausfordernd die körperlichen Anzeichen (schwitzende Hände, flauer Bauch, Herzklopfen, etc.) vielmehr als etwas energiespendendes, aktivierendes willkommen zu heissen (Let´s go Bungee Jumping!) , anstatt sich davon lähmen zu lassen (Freeze).
Wir wissen nun was zu tun ist. Und wollen ist fast genauso gut wie machen, allerdings eben auch nur fast. Wenn du deiner Angst auf einem neuen Level begegnen möchtest, dann reicht wollen nicht. Du weisst intuitiv, was zu tun ist, jetzt ist es nur noch an der Zeit genau hinzuhören. Die Optionen, die einem im ersten Impuls vor die Nase springen, sind meistens auch jene, die die größte Angst mit im Gepäck haben. An dieser Stelle lohnt es sich wirklich ganz genau hinzuhören: Woher kommt dieses Gefühl? Was ist es, das mir so wichtig ist, dass ich derart große Angst habe, mich damit auseinanderzusetzen (und es dadurch vielleicht zu verlieren)?
Angst als Basis zur Weiterentwicklung – du hast es in der Hand!